
Die Evangelische Stiftung Alsterdorf
Dass Menschen mit Behinderung vom NS-Regime als minderwertige Lebensform betrachtet wurden und vielfach dem Euthanasie-Programm und den damit einhergehenden Verbrechen zum Opfer fielen, ist ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun macht man sich an der Evangelischen Stiftung Alsterdorf zur Aufgabe, die Geschichte des eigenen Hauses aufzuarbeiten. Im Rahmen der Straße der Inklusion entstand in diesem Jahr ein Gedenkort für die Ermordeten aus den Alsterdorfer Anstalten im Norden Hamburgs.
Anknüpfungspunkt ist dabei ein Altarbild der 1889 erbauten Anstaltskirche St. Nicolaus, das 1938 an der Ostwand des Chores erschaffen wurde. In einer spektakulären Aktion wurde dieses nun herausgebrochen und als zentrales Element des Gedenkortes vor der Kirche aufgestellt. Zuvor war es viele Jahre in der Kirche verhängt gewesen. Die Denkmalschutzbehörde untersagte eine Vernichtung dieses Zeugnisses nationalsozialistischer Sakralkunst. Und das ist auch gut so, denn Verdrängung ist immer die schlechtere Variante zur Auseinandersetzung und Aufarbeitung.

Quelle: Dirtsc bei Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Foto: Axel Nordmeier, Quelle: Evangelische Stiftung Alsterdorf
Die Programmatik des Alsterdorfer Altarbildes
Um die Beweggründe für die Pläne als Gedenkort einordnen zu können, muss man die Geschichte und das Bildprogramm des Altarbildes analysieren. Im Zentrum der Darstellung steht der Gekreuzigte. Zu seinen Füßen sieht man zwölf Figuren mit Heiligenschein (Nimbus). Die Zwölfzahl ist nicht nur in der christlichen Symbolik eine bedeutende Zahl. Im Kontext des Alsterdorfes Altarbildes fühlt man sich zuerst an die zwölf Apostel erinnert, die das Wort Gottes in der Welt verbreiteten, auch wenn die Komposition aller Jünger am Kreuz Christi kein kanonisches Motiv der christlichen Kunst ist.
Doch die zwölf Gestalten sind hier nicht ausschließlich der Bibel entlehnt. Vielmehr werden in Alsterdorf vorwiegend Personen aus der Geschichte der Anstalten zu Heiligen erhoben. So sind unter anderem Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, der Gründer der Institution, sowie Pastor Friedrich Lensch und seine Frau an der Seite von Maria, dem Jünger Johannes und Martin Luther zu sehen.
Zum eigentlichen Knackpunkt werden allerdings drei weitere Figuren der Szenerie. Sie sind als Anstaltsbewohner mit Behinderung zu deuten und tragen keine Nimben. Sie sind dadurch von dem übrigen Personenkreis abgesetzt. Stattdessen empfangen sie das Wort Gottes mithilfe eines dargestellten „Heiligen“. Diese Mentoren schützen die Behinderten und bringen sie zugleich zum christlichen Glauben. Aber letztere werden nicht als gleichwertige Mitglieder der christlichen Gemeinschaft dargestellt. Und genau diese Botschaft ist es, die dem christlichen Glauben fundamental widerspricht, denn laut diesem ist jeder Mensch vor Gott gleich.

- unbekannte Mutter
- Kind, das nach Alsterdorf gebracht wird
- Pastor Heinrich Matthias Sengelmann, der Gründer der Alsterdorfer Anstalten
- vermutlich Carl Koops, der erste Bewohner der Alsterdorfer Anstalten
- Jenny Sengelmann, die Ehefrau von Pastor Sengelmann, oder Maria aus Bethanien
- Johannes der Täufer
- Jünger Johannes
- Maria
- Martin Luther
- unbekannte Person
- Pastor Friedrich Lensch
- Elisabeth Lensch, Ehefrau von Pastor Lensch
- vermutlich Bruder von Pastor Lensch
- Alsterdorfer Schwester
- unbekannter Bewohner der Alsterdorfer Anstalten
Quelle: Evangelische Stiftung Alsterdorf
Das Mahnmal
Das Altarbild eignet sich daher in besonderer Weise, die menschenverachtende Programmatik des Nationalsozialismus in Bezug auf Randgruppen der Gesellschaft anschaulich zu machen. Verstörend ist vor allem, dass Pastor Lensch als Direktor der Alsterdorfer Anstalten, ein bekennender Nationalsozialist, das Altarbild, auf dem er sich zum Heiligen stilisiert, selbst entworfen hat. Weder er, noch sein Stellvertreter Dr. Gerhard Kreyenberg wurden nach dem Krieg für die aktive Unterstützung der nationalsozialistischen Ideologie und ihrer Verbrechen zur Rechenschaft gezogen. Die Täter von Alsterdorf sind lange bekannt, nun bekommen auch ihre Opfer mit diesem Mahnmal einen Namen. Und das ist in einer Zeit, in der radikales Gedankengut wieder salonfähig wird, von weitreichender Bedeutung.
Vielen Dank für diesen Hinweis und die Erläuterungen!
Von so einem Altarbild hatte ich vorher noch nie gehört.
Solche Altarbilder dürften auch Unikate darstellen. Sie vermengen christliche Bildtraditionen mit nationalsozialistischer Ideologie und lokalen Kontexten.