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Transformationsprozesse im Stadtbild
Unser Bundeskanzler Friedrich Merz hat es wieder getan: Er verschiebt den öffentlichen Diskurs nach rechts, indem er ein „Problem im Stadtbild“ an Migration knüpft. Was er damit im Konkreten meinte, blieb indes zunächst unscharf. Es ist naheliegend, darin eine rassistische Entgleisung zu sehen, wie sie bei Merz schon öfter zu beobachten war. Dabei könnte man Missstände im Stadtbild an vielem festmachen, aber sie pauschal anhand des Erscheinungsbildes der Menschen, sprich mithilfe der Hautfarbe der Passanten, einzugrenzen, folgt einer diskriminierenden Rhetorik und ist eines Politikers des demokratischen Spektrums unwürdig. Hier existiert eher ein Problem im Menschenbild.
Wechseln wir daher besser die Perspektive: Unsere Stadtbilder sind ganz unabhängig von der Fremdartigkeit mancher sich dort aufhaltender Personen kritisch zu betrachten. Die Probleme sind vielfältiger Natur und sind häufig mit Städtebau und verfehlter Architekturplanung in Verbindung zu bringen oder knüpfen unmittelbar daran an. Genau diesen Aspekt möchte ich in den Mittelpunkt meiner kurzen Betrachtung zu Problemfeldern des Stadtbildes stellen – wohl wissend, dass die Herausforderungen des städtischen Transformationsprozesses in Deutschland nicht allein darauf reduziert werden können. Initiativen wie Architektur-Rebellion oder Stadtbild Deutschland machen auf entsprechende Missstände aufmerksam und fordern ein Umdenken bei Stadtplanung und Architektursprache.
Dass dabei beide Bereiche gemeinsam gedacht werden müssen, zeigt bereits ein kurzer Blick in die Geschichte der Stadtplanung. Sowohl die Enge mittelalterlicher Städte als auch die Großzügigkeit frühneuzeitlicher Stadtanlagen hatten unmittelbaren Einfluss auf die Architektur. Ebenso sind die Fassadengestaltungen der Gründerzeit im Kontext der Notwendigkeit von Blockrandbebauung aufgrund der explosionsartig steigenden Bevölkerung im Rahmen der Industrialisierung Europas zu sehen.

Von der autogerechten zur lebenswerten Stadt
In der Nachkriegszeit setzte eine neue Mobilität der Bevölkerung in der Bundesrepublik ein, die das Auto zum Mittelpunkt der bürgerlichen Sehnsüchte und der Stadtplanung machte. Das Leitbild der autogerechten Stadt wurde geboren, mit all seinen negativen Auswirkungen auf das Stadtbild, die man heute noch erkennen kann. In den 1960er- und 1970er-Jahren hatte dies das Zerschneiden zahlreicher Stadtviertel mit breiten Verkehrsachsen zur Folge. Sekundäre Auswirkungen waren der Verlust an Lebens- und Aufenthaltsqualität, Lärm- und Luftverschmutzung sowie Flächenversiegelung und Klimafolgen.
Auch so manche Altstadt musste Substanz lassen. Was der Krieg nicht an historischer Architektur zerstört hatte, wurde vor allem in den 60er-Jahren für immer vernichtet. Ein Exempel aus Esslingen, wo eine Verkehrsachse seit mehr als einem halben Jahrhundert die sehenswerte Altstadt durchschneidet, möge hier pars pro toto für unzählige Fehlentwicklungen ähnlicher Art stehen. Und in Bremen wurde 1959 die Ruine der stadtbildprägenden Kirche St. Ansgarii beseitigt, um Platz für einen Konsumtempel zu schaffen. Solche Beispiele ließen sich zu Hunderten anführen. In der DDR waren die Auswirkungen der Stadtpolitik nicht minder dramatisch, folgten allerdings zudem der Ideologie der sozialistischen Planstadt, die den historischen Stadtgrundriss wie in Magdeburg, Dresden oder Potsdam teilweise radikal überformte.

In den vergangenen Jahrzehnten hat man die Missstände längst identifiziert und versucht, auf unterschiedlichen Ebenen gegenzusteuern. Ein Schritt in die richtige Richtung erfolgte bereits seit den 80er-Jahren mit der vielfachen Errichtung von Fußgängerzonen, die dem Fußgänger den öffentlichen Raum in eng umgrenzten Bereichen zurückgaben. Durch den fortschreitenden Klimawandel rücken Maßnahmen wie der Rückbau von Straßenschneisen, die Verdrängung des motorisierten Individualverkehrs aus den Städten und die Begrünung des Wohnumfeldes immer mehr in den Fokus der Stadtplaner. Dies sind alles richtige und wichtige Schritte zur Wiedergewinnung der lebenswerten Stadt, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die Mobilitätswende schafft Lebensqualität. Wohin der Weg führen kann, demonstrieren Modelle in zahlreichen niederländischen Städten oder in Kopenhagen, die uns in Deutschland in diesen Kategorien Jahrzehnte voraus sind.
New Urbanism und traditionelle Architektursprache
Ein Konzept, das die Probleme der Mobilität und der fehlenden Lebensqualität bereits seit etwa 1990 mitdachte, ist unter dem Namen New Urbanism bekannt. Die Stadtplanungsbewegung kann als Gegenentwurf zur zersiedelten, autogerechten Stadt eingeordnet werden. Sie will Städte wieder kompakter, lebenswerter und menschlicher machen. Folgende Aspekte charakterisieren Siedlungen des New Urbanism:
- Nutzungsmischung: kurze Wege zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit
- Vorrang für Fußgänger, Radfahrer und ÖPNV
- Kompakt, dicht, kleinteilig
- Bezug zu lokaler Baukultur
- Zentrale Plätze, Parks und Straßen als soziale Treffpunkte
- Nachhaltigkeit, Begrünung, Regenwassermanagement
- Gemeinschaftsbildung, soziale Mischung, Nachbarschaftsleben
Die ersten Projekte des New Urbanism wie in Seaside oder Celebration (beide Florida) entstanden in den USA. In der Folge wurden auch Orte oder Stadtteile nach ähnlichen Prinzipien in Europa gestaltet. Zu den prominentesten Vertretern gehört das englische Poundbury in der Grafschaft Dorset, an dessen Konzeption und Umsetzung der heutige britische König Charles III. beteiligt war. Die Architektur der Siedlung ist an den englischen Landhausstil angelehnt. Andere Beispiele entstanden in den Niederlanden (Brandevoort), Schweden (Jakriborg, S:t Eriksområdet in Stockholm), Frankreich (Le Plessis-Robinson) oder Belgien (Heulebrug).

Anzumerken ist dabei, dass die Architektursprache nicht zwangsläufig historisierend-traditionell ausfallen muss, wie dies in unterschiedlichster Ausprägung in obigen Orten der Fall ist. Ideen und Anregungen des New Urbanism können ebenso mit moderner Formensprache umgesetzt werden, wie insbesondere deutsche Beispiele aufzeigen: Quartier Vauban (Freiburg im Breisgau), Kronsberg (Hannover). Man kommt aber nicht umhin, der kleinteiligen Bebauung mit Bezügen zu regionaler Architekturtradition den Vorzug in Bezug auf eine ästhetische Geschlossenheit zu geben. Dabei können bereits die Materialität des Baustoffs, die Dachformen oder eine Reminiszenz an eine Gliederung den entscheidenden Unterschied zwischen monotoner Fassadengestaltung und architektonischer Qualität mit nachhaltiger Wirkung für die Lebensqualität ausmachen.

Rekonstruktion historischer Bauten
Da gerade deutsche Städte durch den letzten Krieg und die nachfolgende Ideologie der autogerechten Stadt bzw. die sozialistische Planstadt diese urbanen Qualitäten und eine lokale Identität in großer Anzahl verloren haben, ist auch die Rekonstruktion historischer Bauten oder Ensembles ein probates Mittel, dem entgegenzuwirken. Grundlage sollte eine Wiederherstellung oder Annäherung an die historischen, meist kleinteiligen Stadtgrundrisse sein, wie sie zum Beispiel seit einigen Jahren am Prämonstratenserberg in Magdeburg diskutiert wird. In der Frankfurter Innenstadt hat man jüngst Teile der Altstadt mit Platzanlagen und herausragenden historischen Gebäuden rekonstruiert und mit angepassten Füllbauten zu einem eindrucksvollen Ensemble ergänzt. In Dresden wirkte die Rekonstruktion der Frauenkirche als Initialzündung für eine Wiederherstellung des im Krieg restlos zerstörten Neumarktes. In Potsdam geht die Wiederherstellung des Alten Marktes mit dem Stadtschloss (Nutzung als brandenburgischer Landtag) in die letzte Phase. Und in Hildesheim haben Bürger bereits in den 80er-Jahren erreicht, dass ihr einzigartiger historischer Marktplatz mit dem Knochenhaueramtshaus rekonstruiert wurde.
Die prominenten Beispiele verdecken den Blick darauf, dass diese Leuchtturmprojekte nicht sehr zahlreich sind. Manchmal sind es auch Einzelbauten wie das Berliner Stadtschloss, die Potsdamer Garnisonkirche, das spätgotische Rathaus in Wesel oder die Alte Waage und das Schloss in Braunschweig, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In Nürnberg wurde jüngst der Hof des Pellerhauses rekonstruiert. Um die ehemalige Fassade des herausragenden Renaissancebaus ringt man noch. Seit vielen Jahren diskutiert man auch den Wiederaufbau von Schinkels Bauakademie in Berlin.

Vielfach haben die Befürworter solcher Stadtreparaturen mit dem Vorurteil zu kämpfen, revisionistische Stadtbaupolitik zu betreiben. Auch wenn der Einwand – wie im Fall der Potsdamer Garnisonkirche – aufgrund der historischen Belastung des Ortes ernst genommen werden sollte, verkennen solche Anschuldigungen, dass in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit Leitbauten deutschlandweit zu Hunderten rekonstruiert wurden, um den zerstörten Städten nicht gänzlich ihre architektonische und historische Identität zu rauben. Ob dies wie heute meist ex nihilo geschieht oder aus schwerst ruinösen Zuständen, ist nur eine Frage der Bauaufgabe, nicht der Intention. Heute sind wir für jeden historischen Baukörper dankbar, dessen Ruine nicht abgetragen, sondern wiederaufgebaut wurde. Diese Bauten stellen Ankerpunkte für den nachhaltigen und menschengerechten Städtebau dar.
Erkenntnisse der Architekturpsychologie
Wie wichtig die Ästhetik von Architektur für unser Wohlbefinden sein kann, weisen zahlreiche jüngere Forschungsprojekte nach. Sie wirkt unmittelbar auf die Psyche und somit auf unsere Lebensqualität und Gesundheit. Architekturpsychologie ist dabei eine vergleichsweise junge Disziplin, die das Potenzial hat, in der Stadtplanung für Verschiebungen zu sorgen. Sie beinhaltet Erkenntnisse über Innenarchitektur, aber auch über Städtebau und Architektursprache. In den Niederlanden oder Skandinavien sind Entwicklung und Debatte dabei bereits weiter vorangeschritten als in Deutschland. Psychologische Faktoren zwischen Wohnumfeld und Mensch fließen dort in Planungsprozesse als Standard ein. Auch im Gesundheitswesen werden diese Wirkmechanismen mittlerweile erkannt.
Konkret auf unseren Schwerpunkt bezogen, inwiefern Menschen Präferenzen hinsichtlich zeitgenössischer und traditioneller Architektursprache im Stadtbild besitzen, zeichnet sich – für mich wenig überraschend – eine unübersehbare Tendenz zu Letzterem ab. Eine Studie der TU Chemnitz zeigt auf, dass Straßenzüge primär anhand ihrer Homogenität positiv bewertet sowie Brüche und Monotonie sehr negativ aufgenommen werden. Traditionelle Stilelemente werden bevorzugt, während kastenförmige Kubaturen und karge Fassaden abfallen. Elegantes Weiß mit klassischer Ornamentik erzielt die höchste Zustimmung. Die Ergebnisse decken sich weitgehend mit einer ganzen Reihe vorhergehender Studien und Umfragen. Grob gesprochen: Der Mensch bevorzugt im Durchschnitt Kleinteiligkeit, Homogenität und Elemente mit Anklängen an traditionelle und regionale Formensprache. Bezeichnend ist hierbei auch die Feststellung, dass Architekten und Laien markante Unterschiede in der Bewertung von Architektur aufwiesen.
Bei all den Aspekten, die sich aus Städtebau und Architektur für die Schaffung einer lebenswerten Stadt ergeben, sollte man von einem ganzheitlichen Ansatz ausgehen, wie wir ihn aus der Medizin kennen. Die Orientierung an den Bedürfnissen des Stadtbürgers ist dabei der zentrale Ankerpunkt. Was den Menschen wichtig erscheint, lässt sich nicht zuletzt an den zahlreichen aktiven Bürgerinitiativen für Denkmalschutz, Rekonstruktion und Stadtbildpflege ablesen. Sie möchten bei der Gestaltung ihrer Städte, ihres Wohnumfeldes mitwirken und stellen dabei nicht selten ein Gegengewicht zu den Vorstellungen der etablierten Architektenschaft dar. Bevor wir glauben, Probleme im Stadtbild an Menschen festmachen zu können, sollten wir daher andere, sachgerechtere Optionen der Stadtbildverbesserung betrachten, wie sie uns die Fachwelt bereithält und deren Umsetzung bisweilen mehr politischer Wille und Mut guttun würden.



