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Die Kiewer Rus – Keimzelle Russlands und der Ukraine

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1 Hryvnia mit Wladimir dem Heiligen
1 Hryvnia (Währung der Ukraine) mit Wladimir dem Heiligen

Ostslawische Frühgeschichte

Wladimir Putin führt Krieg gegen die Ukraine. Unter anderem begründet er diesen mit der Geschichte seines Landes im Mittelalter. Mit Russland und der Ukraine führe er das zusammen, was historisch zusammengehört. Die Ukraine sei von Russland erschaffen worden. Ein wissenschaftsbasierter Blick in die Frühzeit der ostslawischen Staatsbildung, den wir im Folgenden skizzenhaft vollziehen wollen, hilft vielleicht, die Motive von Putins Krieg besser zu verstehen.

Die wichtigste Quelle der russischen und ukrainischen Frühgeschichte ist die Nestorchronik, die die ostslawische Geschichte des Landes von ihren Anfängen bis in die Entstehungszeit der Chronik von 1113 bis 1118 erfasst. Gleichwohl ist die Zuverlässigkeit dieser Schriftquelle vor allem für die Jahre vor 1070 nicht immer gewährleistet. Hierbei vermischen sich Legenden und Sagen mit fremdländischen Quellen.

Waräger an Dnjepr und Don

Bereits im 8. Jahrhundert sind Händler und Krieger aus Skandinavien an den großen Strömen im osteuropäischen Tiefland zwischen der Ostsee im Norden und dem Schwarzen Meer sowie dem Kaspischen Meer im Süden bezeugt. Sie schifften auf Dnjepr, Don und Wolga und erreichten sogar das Byzantinische Reich, wo sie als Garde des byzantinischen Kaisers bezeugt sind. Die Bezeichnung dieser Nordmänner, die zu den Wikingern zu zählen sind, lautete in zeitgenössischen slawischen Quellen „Waräger“.

Byzantinische Warägergarde in der Chronik des Johannes Skylitzes
Byzantinische Warägergarde in der Chronik des Johannes Skylitzes (12. Jahrhundert)

839 tauchte erstmals die Bezeichnung „Rus“ bzw. „Rhos“ in den Quellen auf. In den westfränkischen Annales Bertiniani werden die Rus mit dem nordischen Volk der Sueonen identifiziert. Auch weitere Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts lassen den Schluss zu, dass sich die Waräger selbst Rus nannten und aus Schweden stammten. Von diesen ging der Name auf die ostslawischen Völker über.

Die Kiewer Rus

Entstehung und Aufstieg

Die Skandinavier ließen sich im Ostslawischen nieder und bildeten dort Herrschaften, die ebenfalls als Rus bezeichnet wurden. Die bedeutendsten waren die Kiewer Rus und die Nowgoroder Rus. Diesen Prozess darf man sich nicht als gezielten Eroberungszug, sondern vielmehr als interessengesteuerte Ansiedlung von Eliten mit anschließender rascher Assimilierung vorstellen. Der Bericht der Nestorchronik, wonach die ostslawischen Stämme die Waräger selbst ins Land riefen, ist allerdings im Reich der Legenden anzusiedeln.

Von größter Bedeutung für die russische und ukrainische Geschichte war dabei das Geschlecht der Rurikiden, dessen sagenumwobener Stammvater Rjurik ab 862 als Warägerfürst in Nowgorod geherrscht haben soll. In Kiew residierten zunächst die warägischen Fürsten Askold und Dir. Sie wurden von Rjuriks Nachfolger in Nowgorod, Fürst Oleg, im Jahre 882 in kriegerischen Auseinandersetzungen getötet. Oleg machte daraufhin Kiew zu seiner Residenz.

In der Folge begann der Aufstieg der Kiewer Rus zu einem Großreich, das alle anderen ostslawischen Fürstentümer unter seiner Oberherrschaft vereinen konnte. Parallel erfolgte der Ausbau des Staates im Inneren. Seine größte Blüte erlangte das Kiewer Reich in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts unter den Großfürsten Wladimir dem Heiligen und Jaroslaw dem Weisen. Kulturell erfolgte ein Anschluss des Reiches an Byzanz.

Kiewer Rus um 1000
Kiewer Rus um 1000 – Quelle: Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Christianisierung

Erste Christianisierungsanstrengungen wurden um 870 von Konstantinopel aus gesteuert, das damit der militärischen Gefahr durch die Kiewer Rus begegnen wollte. In diese Zeit dürften die ersten Kirchengründungen in Kiew anzusetzen sein, ohne dass Einzelheiten über das Wirken des explizit für die Rus ernannten Bischofs überliefert sind.

Intensiver wurden die Kontakte zum Christentum unter der Regentschaft von Fürst Oleg (882 bis 912) und seinem Sohn Fürst Igor (912 bis 945). Durch die im Jahre 945 erfolgte Taufe der Fürstin Olga (945 bis 962), die die Regentschaft für ihren minderjährigen Sohn führte, sollte eine umfassende Christianisierung der Bevölkerung folgen. Die Idee einer einheitlichen Religion zur Konsolidierung der Machtverhältnisse scheiterte jedoch sowohl an den Vorstellungen aus Konstantinopel als auch des ostfränkischen Königs und späteren Kaisers Otto I. Beide machten die Unterstellung einer zukünftigen Kiewer Kirche unter die jeweilige Kirchenverwaltung zur Bedingung für eine Missionierung des Kiewer Reiches.

Erst unter Wladimir dem Heiligen (980-1015), der sich 988 taufen ließ, hielt das Christentum endgültig Einzug im Kiewer Herrschaftsbereich. In Nowgorod und Kiew wurden Bistümer gegründet. Kiew war zugleich Sitz eines Metropoliten. Das Kiewer Höhlenkloster wird bereits in der Nestorchronik genannt und ist damit eines der ältesten Klöster der Kiewer Rus.

Die Nestorchronik berichtet zudem von Massentaufen der Kiewer Bevölkerung. Dabei machte die oströmische Kirche aufgrund der engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu Byzanz das Rennen. Diese Entscheidung hatte für die nächsten 1000 Jahre Bestand. Die Orthodoxe Kirche ist in der Ukraine und in Russland bis heute die beherrschende Gemeinschaft von Christen, was sich auch in der Sakralarchitektur widerspiegelt.

Kiew - Höhlenkloster mit Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale und Allerheiligenkirche
Kiew – Höhlenkloster mit der Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale und der Allerheiligenkirche

Niedergang des Kiewer Großreichs

Ab der Mitte des 11. Jahrhunderts zerfiel das Kiewer Reich durch Erbstreitigkeiten in Territorialherrschaften: Kiew, Tschernikow, Wladimir, Wolhynien, Polozk, Smolensk und Nowgorod. Diese wiederum splitterten sich in weitere kleine Fürstentümer auf. Damit einher ging gleichzeitig eine erhebliche Ausweitung des Gesamtterritoriums der ostslawischen Herrschaften. Unter Wladimir Monomach gelang es nach dem wichtigen Sieg gegen das Nomadenvolk der Polowzer, die Land und Handel der Fürstentümer entscheidend bedrohten, das Kiewer Großreich zwischen 1113 und 1125 nochmal herzustellen, doch unter seinen Nachfolgern zerfiel es endgültig.

Von der Mitte des 12. bis zu Mitte des 13. Jahrhunderts erstarkten einige der Territorialfürstentümer und gelangten zu politischer und wirtschaftlicher Macht: Halitsch-Wolhynien, Nowgorod und Rostow-Susdal. Insbesondere Nowgorod im Norden des Landes wurde durch seine Schlüsselstellung im Handel der Hansestädte mit dem Osten Europas und darüber hinaus zu einer der größten und bedeutendsten Städte Europas.

Eine Zäsur bildete der Einfall der Mongolen, die in zwei Schlachten 1223 und 1238 einen Großteil der Fürstentümer eroberten. 1240 fiel auch Kiew an die Goldene Horde. Von den Eroberungen und den durch die mongolisch-tatarischen Plünderungen ausgelösten Niedergang von Wirtschaft, Kultur, Handel und Handwerk blieben nur die westlichen und nördlichen Fürstentümer weitgehend verschont.

Das Großfürstentum Moskau

Unter der Parole „Sammeln der Länder der Rus“ begannen vor allem die Fürsten von Moskau, die verlorene Rus seit Beginn des 14. Jahrhunderts wieder zu beleben. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts gelang es, einen großen Teil der Territorialherrschaften unter dem Großfürstentum an der Moskwa durch Unterwerfung zu vereinigen und die Goldene Horde zurückzudrängen.

Die Rolle des einst politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Zentrums Kiew nahm nun Moskau ein. Der Metropolitansitz wurde nach Moskau verlegt. Hier sollte unumstritten der Mittelpunkt des gesamtrussischen Reiches in der Folge liegen. Moskau sah sich als Erbe Kiews.

Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, wenn man berücksichtigt, dass das Fürstentum Moskau erst im späten 13. Jahrhundert seine Eigenständigkeit als kleines, unbedeutendes Territorium innerhalb der Rus erlangte. Der folgende Aufstieg wurde nicht zuletzt von auf Expansion angelegte Unterwerfungskriege und einem autokratischen Politikstil im Innern getragen.

Moskau - Kreml
Der Moskauer Kreml

Ukraine und Belarus

Kiew selbst wurde aber für gut drei Jahrhunderte Teil eines litauischen Großfürstentums und später der Polnisch-Litauischen Union. Diese Zeit prägte die Grenzlandschaften zwischen Russland und Polen-Litauen nachhaltig. Sie führte zu einer Herausbildung eines ukrainischen und weißrussischen Volkstums mit einer eigenen ethnischen Identität. Kiew, das einstige Zentrum der Rus, konnte erst 1667 mit den östlich des Dnjepr liegenden Ländereien wieder nach Russland eingegliedert werden.

Im 19. Jahrhundert begann sich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine eine Nationalbewegung zu entfalten. Sie wandte sich gegen die vom zaristischen Russland propagierte Vorstellung des dreieinigen russichen Volkes aus Großrussen (Moskau), Kleinrussen (Ukraine) und Belarussen (Weißrussland). Es ist jene Konfliktlinie, die nun in der Geschichte nicht zum ersten Mal wieder aufbricht.

Während sich Putin offensichtlich als Erneuerer der Einheit der Kiewer Rus aus der Frühzeit russischer Geschichte sieht und den Krieg als innerrussische Angelegenheit einstuft, betont man in der Ukraine die eigenständige Entwicklung, die Moskau und Kiew im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit genommen haben. Für beide Staaten – Russland wie die Ukraine – ist die Zeit der Kiewer Rus ein wichtiger Bezugspunkt im nationalen Gedächtnis. Ausgang ungewiss!

Nachtrag: Auf die frühgeschichtliche Dimension der Ukrainekrise verwies noch vor Kriegsausbruch der Archäologe Rainer Schreg.

Weiterführende Literatur zur Vertiefung:

  • Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands: Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, 3. Auflage, München, 2016
  • Günther Stökl, Russische Geschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 7. Auflage, Hamburg, 2018
  • Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Auflage, München, 2022
  • Erich Donnert, Russland (860-1917): Von den Anfängen bis zum Ende der Zarenzeit, Regensburg, 1998

2 Kommentare zu “Die Kiewer Rus – Keimzelle Russlands und der Ukraine

  1. Ein wunderbarer Artikel, welcher die komplex ineinander verflochtene Historie Russlands & der Ukraine prägnant zusammenfasst. Bitte mehr davon – Wissenschaft ist wichtiger denn je.

    1. Vielen Dank, David! Mir schien es in der derzeitigen Lage sehr angebracht, den Blick in die Geschichte zu richten, ohne dabei ideologische Vorurteile zu bedienen.

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