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Stadtgeschichte
Missionsort und Handelsstadt
Unser Weg führt uns ins Zentrum der Niederlande, in die historische Provinz Overijssel, genauer in die Hansestadt Deventer, die malerisch am Ufer des Stromes IJssel liegt. Deventer ist einer der ältesten Orte der Niederlande und findet bereits in Quellen des Bistums Utrecht im 9. Jahrhundert Erwähnung. Doch darf angenommen werden, dass der angelsächsische Missionar Lebuinus bei seiner Überquerung der IJssel im Jahre 768 an dieser Stelle eine Kirche errichtete. Auch eine erste Stadtbefestigung aus Wällen ist im späten 9. Jahrhundert nachweisbar.
Die Entwicklung zur Stadt muss früh eingesetzt haben, denn in einer Schenkungsurkunde von König Otto I. aus dem Jahre 952 wird Deventer als urbs bezeichnet. Sukzessiv erhielt der Ort Privilegien und vergleichsweise früh erfolgte 1123 die Verleihung der Stadtrechte. Der Shipbeek, ein Nebenfluss der IJssel, floss im Mittelalter unmittelbar südlich der Altstadt in den großen Strom. Das Mündungsgebiet bildete den Hafen Deventers. Die günstige Lage an den Flussläufen und die damit einhergehende Verbindung zur Nordsee ließen den Handel florieren. Die blühende Handelsstadt war schließlich lange Teil der Hanse.
Zentrum der Bildung und Reformation
Bedeutung besaß Deventer auch als wichtiges Zentrum für religiöse Reformen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hier wurde der Theologe und Bußprediger Geert Groote geboren und hier wirkten bzw. lernten Thomas von Kempen sowie der Theologe Erasmus von Rotterdam. Letzterer darf wohl zurecht als niederländischer Universalgelehrter und einer der einflussreichsten Humanisten der Renaissance eingestuft werden. Thomas von Kempen war Augustiner-Chorherr und bemühte sich um die Reformierung des geistlichen Lebens. Die in jener Zeit weithin renommierte Lateinschule existierte bis 1848.
Wie in fast allen niederländischen Städten fasste die Reformation auch in Deventer im späten 16. Jahrhundert Fuß. Die Stadt war mehrfach durch den Achtzigjährigen Krieg der niederländischen Provinzen gegen die spanischen Besatzer betroffen und konnte im 17. Jahrhundert nicht mehr an seine mittelalterliche Bedeutung anknüpfen. Das Stadtbild zeigt aber noch viel vom ehemaligen Glanz dieser Zeit.
Historischer Stadtrundgang
Die IJssel und das Stadtpanorama
Die IJssel hat wahrlich eine beherrschende Stellung in der Geschichte und im Stadtbild von Deventer. Am besten wird dies deutlich, wenn wir unseren Stadtrundgang am linken Ufer des Stromes, gegenüber der Altstadt beginnen. Hier kann man übrigens auch stressfrei und stadtnah parken. Die IJssel ist auf zweierlei Weise zu überqueren: zu Fuß über die Wilhelminabrücke oder per Personenfähre direkt ins Zentrum. Beides hat enormen Reiz.
Für unseren Rundgang wählen wir zunächst die Brücke und werden dafür mit einem grandiosen Panoramablick auf die Silhouette der Deventer Altstadt belohnt. Hinter der Uferpromenade erhebt sich die Lebuinuskirche aus der Dächerlandschaft. Auf dem weiteren Weg wird der Blick freigegeben auf die ganz am Rande der Altstadt stehende Bergkirche, die sich am höchsten Punkt des Bergviertels mit ihrer Doppelturmfassade in den Himmel reckt. Hier finden sich auch beeindruckende Reste der mittelalterlichen Stadtbefestigung. Einst wiesen sie zum Flusslauf des Shipbeek, der an dieser Stelle den Hafen der Stadt bildete.
Das Bergkwartier mit der Bergkirche
Östlich der Bergkirche wollen wir in das Gassengewirr des Bergkwartiers eintauchen. Seine erhöhte Lage verdankt es einer Flussdüne. Das Areal ist mit Abstand das gemütlichste und mit historischer Bausubstanz am reichsten geprägte Altstadtviertel von Deventer. Besonders ansehnlich präsentieren sich die Bergstraat, die Menstraat und die Walstraat – letztere mit zahlreichen kleinen Geschäften und Cafés. Es ist daher wenig überraschend, dass das Bergkwartier mit seinem reichen Bestand an Häusern des 17. und 18. Jahrhunderts jährlich als Kulisse für das Charles-Dickens-Festival dient.
Die Sint-Nicolaaskerk oder Bergkerk am höchsten Punkt des Viertels war ursprünglich eine romanische Basilika mit Querhaus. Sie entstand in der Zeit von 1198–1209 als Prämonstratenserkirche. Das heutige Erscheinungsbild wird von einem weitgehenden Neubau des 15. Jahrhunderts mit Umgangschor bestimmt. Lediglich die Doppelturmfassade ist vom Gründungsbau in weiten Teilen erhalten. Im Innern der Kirche findet der kundige Beobachter zudem Mauerreste des romanischen Querhauses. Das Baumaterial war rheinischer Tuff.
Die Waage auf dem Brink
Die Gassen des Bergkwartiers führen herunter zum Brink, der zentralen Platzanlage Deventers, die zwischen Bergviertel und der übrigen Altstadt wie ein Scharnier vermittelt. Wie so häufig in niederländischen Städten präsentiert sich der Platz als quirliges, langgezogenes Forum. Der Brink war das ehemalige Handelszentrum der Stadt und lag nahe der Hafenanlagen an IJssel und Shipbeek. Seit 1898 ziert der Wilhelmina-Brunnen den Platz. Er erinnert an Königin Wilhelmina, die im gleichen Jahr gekrönt wurde.
Architektonischer Höhepunkt des Brinks ist aber zweifelsohne die Waage, die an Stelle eines bescheidenen älteren Vorgängerbaus errichtet worden ist. Wie in zahlreichen niederländischen Städten ist sie das repräsentativste zivile Gebäude. Die Waage von Deventer wurde von 1528 bis 1531 in spätgotischen Formen erbaut und im 17. Jahrhundert mit einer Renaissance-Treppenanlage mit Plattform bereichert. Ihre außergewöhnlich plastische Erscheinung des Backsteinbaus wird nicht zuletzt durch den Kontrast zu den aus Sandstein gefertigten Gliederungselementen und Ornamenten erzeugt. Die vier Ecktürmchen wirken wie ein herrschaftliches Zeichen und zeugen von der bedeutenden Stellung der Kaufleute der Stadt. Heute beherbergt das Gebäude das stadthistorische Museum.
Den Brink säumen weitere bemerkenswerte Häuser, die die Bedeutung der Stadt im Spätmittelalter (wie das Gasthaus des Heilig-Geist-Hospitals am Brink 69) und der frühen Neuzeit dokumentieren. Manche davon lassen allerdings – wie das Haus Kronenburg – erst auf den zweiten Blick ihr Alter erkennen. Prächtige Renaissance-Fassaden trägt das hinter der Waage stehende Haus „Die drei Heringe“ aus der Zeit um 1575. Bemerkenswert ist auch die reich ornamentierte Giebelfassade des 1583 errichteten Penninck-Hauses. Unsere Empfehlung ist es, den Platz einmal zu umschreiten und die Fassaden auf sich wirken zu lassen.
Lebuinuskirche
Danach führt uns der Weg durch eine der vielen kleinen Gassen zum zweiten zentralen Platz der Altstadt, dem Grote Kerkhof. Hier erhebt sich die wahrlich monumentale Hauptkirche der Stadt, die Grote oder Lebuinuskerk. Sie diente im Laufe der Jahrhunderte als Missionskirche, Stiftskirche, Pfarrkirche und Bischofskirche. Ihre Anfänge gehen auf jene karolingische Kirche zurück, den Missionar Lebuinus im 8. Jahrhundert hier an der IJssel gegründet hatte. Unter dem Utrechter Bischof Bernold entstand Mitte des 11. Jahrhunderts eine romanische Basilika als Stiftskirche. Von diesem Bau haben sich die Krypta und Teile des Querhauses erhalten. Stadtbrände 1235 und 1334 haben die Kirche in unbekanntem Ausmaß beschädigt.
Mitte des 15. Jahrhunderts begann der Um- bzw. Neubau zur heutigen Hallenkirche mit Umgangschor. Die geplante Doppelturmfassade wurde dabei nie vollendet. Der ausgeführte Südturm bekam schließlich 1613 eine Laterne und ist ein markantes Wahrzeichen der Stadt. Malerisch wirkt vor allem das Ensemble mit der westlich vorgelagerten, nur in Teilen überkommenen Marienkirche. Die Lebuinuskirche in Deventer ist aus vielerlei Hinsicht zu den bedeutendsten gotischen Sakralbauten der Niederlande zu zählen. Bemerkenswert sind vor allem die steinerne Wölbung als Netzgewölbe und der dekorative Wechsel des Baumaterials zwischen Backstein, rheinischen Tuff und Bentheimer Sandstein.
Rathaus
Gegenüber der Kirche steht der im Kern mittelalterliche Rathauskomplex der Stadt. Das Gebäude wurde erstmals 1339 erwähnt und besteht aus mehreren angrenzenden Gebäudeteilen. Zum Grote Kerkhof hin erhielt es 1693 eine strenge Fassadengestaltung im Stil des klassizistischen Barocks. Ganz anders präsentiert sich das angrenzende Landshuis mit seiner 1632 errichteten Giebelfassade, die von zahlreichen Ornamenten der Spätrenaissance – vorwiegend Knorpelwerk – besetzt ist. Das Gebäude diente als Versammlungsort der Provinzregierung von Overijssel.
Daneben – und damit machen wir einen großen Sprung – steht ein wirklich ungewöhnliches Objekt: das mit einem Architekturpreis prämierte Gemeindeamt, errichtet nach Plänen der Architekten Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk. Der 2016 vollendete Bau ist besetzt mit den Fingerabdrücken von 2264 Deventer Bürgern und zog uns trotz seiner spröden Formen in seinen Bann.
Entdeckungen in der Deventer Altstadt
Deventer ist wie viele niederländische Städte ein Gesamtkunstwerk, bei dem es sich lohnt, durch die Gassen zu schlendern und immer wieder Neues zu entdecken. Insofern können wir nicht viel verkehrt machen, wenn wir unseren historischen Rundgang in den vom Tourismus weniger berührten Vierteln der nordwestlichen Altstadt ausklingen lassen. Die Gassen rund um Stromarkt und Nieuwe Markt laden mit ihrer historischen Bebauung zum Erkunden ein. Dabei kommen wir auch an der zweischiffigen gotischen Broederenkerk vorbei, die im frühen 14. Jahrhundert als Franziskaner-Klosterkirche errichtet worden ist.
Und einen Geheimtipp möchte ich an dieser Stelle loswerden: im Sandrasteeg finden sich – optisch unspektakulär – Reste des ältesten Steinhauses der Niederlande. Das Proosdij datiert in die Zeit um 1140 und wurde aus Trachyt und Tuffstein errichtet. Den Rückweg an das andere IJsselufer legen wir mit der Personenfähre zurück, die Fassaden und Türme der Deventer Altstadt im Rücken. Ein letzter Blick zurück in der Abendsonne!
Deventer steht schon eine Weile wieder auf meinem Plan. Leider hat es sich noch nicht ergeben, da mal wieder hin zu fahren.
Das Dickens Feestijn fand ich auch fantastisch, aber auch das Museum in de Stadtwaage und das Spielzeugmuseum.
Im Rahmen eines Kulturaustauschprogramms war ich als 15- oder 16-Jährige mal mehrere Tage für ein kleines Filmfestival in Deventer. Höhepunkt war eine mobile Kinoleinwand vor der Waage, wo der U2-Film „The Rattle And Hum“ gezeigt wurde.
Ich kann es nicht beschwören, aber es kann gut sein, dass Deventer die erste niederländische Stadt war, die ich besuchte. Mir ist erst allmählich bewusst geworden, dass die Stadtbilder vieler Städte in unserem westlichen Nachbarland so attraktiv und lebendig sind. Auf jeden Fall hat Deventer meine Begeisterung für die Niederlande geweckt. Vor wenigen Tagen waren wir in Maastricht und Roermond. Das folgt dann aber im Laufe des Jahres in weiteren Blogbeiträgen.