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Wie Twitter Wahlmanipulation fördert

Posted on – zuletzt aktualisiert am 6. Juli 2019
Twitter

Twitter sperrt Accounts

Es trägt die Züge eines Skandals. Seit Anfang Mai sperrt Twitter zahlreiche Accounts wegen angeblicher Regelverstöße. Betroffen sind Politiker, Journalisten, Juristen und die Jüdische Allgemeine, die bedeutendste jüdische Wochenzeitung in Deutschland. Dazu kommen unzählige weitere kleinere Accounts. Hintergrund ist eine neue Richtlinie von Twitter, die vor der Europawahl Wahlmanipulation in Form von falschen Informationen verhindern soll. Doch dies ging gründlich schief. Twitter ist wegen der Vorkommnisse zu einer Anhörung im Bundestag geladen.

Doch gehen wir einen Schritt zurück. Einer der ersten prominenten Betroffenen war Rechtsanwalt Thomas Stadler. Ihm wurde wie vielen anderen, die seinen Tweet retweeteten oder abwandelten, folgende satirische Aussage, die er vor Jahren tätigte, zum Verhängnis:

Dringende Wahlempfehlung für alle AfD-Wähler. Unbedingt den Stimmzettel unterschreiben. 😉

Bemerkenswert ist bei dieser Strafaktion von Twitter nicht nur, dass der Tweet bereits drei Jahre alt ist und sich gar nicht auf die kommende Europawahl beziehen kann, sondern gar nicht anders als satirisch verstanden werden muss. Möglich macht diese Sperrung die von Twitter kürzlich eingeführte Meldefunktion, welche von allen Mitgliedern genutzt werden kann. Die Tatsache, dass die Maßnahmen fast ausschließlich Kritiker der AfD trafen und rechte Trolle sich damit brüsken, die Sperrungen bewirkt zu haben, lässt an politische Instrumentalisierung zugunsten der AfD denken. Stadler selbst bezeichnet Twitter als Handlanger der AfD. Zumindest wird durch die Vorgänge dokumentiert, wie Algorithmen bei der Beurteilung von Äußerungen sträflich versagen. Overblocking ist die Folge.

Prominente Betroffene

Die folgende Liste betroffener Personen oder Accounts erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, soll aber die Absurdität der Vorgänge illustrieren. Das ganze Ausmaß ist unter dem Hashtag #twittersperrt nachvollziehbar.

  • Staatssekretärin Sawsan Chebli
    Die Berliner SPD-Politikerin wurde wegen eines Tweets gesperrt, in dem sie sich gegen die von der AfD herbeidiskutierte Islamisierung Berlins durch die häufige Verwendung des Namens Mohammed wandte.
  • Rechtsanwalt Thomas Stadler
    Die Sperrung erfolgte wegen eines drei Jahre alten satirischen Tweets: „Dringende Wahlempfehlung für alle AfD-Wähler. Unbedingt den Stimmzettel unterschreiben.“
  • Rechtsanwalt Christian Säfken
    Säfken wiederholte den Wahlwitz von Stadler. Seine daraufhin erfolgte Sperrung veranlasste ihn zu einem bemerkenswerten Blogbeitrag, in dem er Twitter Rechtsbruch und ein Kippen nach rechts vorwirft.
  • Tom Hillenbrand
    Der Autor und Journalist wollte bewusst testen, ob Twitter Accounts weiterhin wegen Wahlwitzen wie jenem von Stadler sperrt. Die Antwort erhielt er prompt.
  • Jüdische Allgemeine
    Die Zeitung wurde wegen eines Tweets zu einem eigenen Artikel gesperrt. Der Wortlaut des Tweets lautete „Lesenswert: Wegen der Haltung der AfD zum Holocaust meidet der israelische Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, nach eigenen Angaben jeden Kontakt zu der Partei.“
  • Sven Kohlmeier
    Der SPD-Abgeordnete schrieb bei Twitter: „Die Typen von der #AfD! So ein paar #Hitlerwein-Fotos schaden nicht der Parteimitgliedschaft. Wie rechtsradikal muss man eigentlich sein, um bei der #AfD rauszufliegen?“
  • Dietrich Herrmann
    Der Dresdner Politologe und Mitglied der Grünen wurde wie Stadler wegen eines satirischen Tweets zu AfD-Wählern gesperrt.
  • Die PARTEI Niedersachsen
    Auch die Satire-Partei um Martin Sonneborn, die im EU-Parlament sitzt und sich wieder zur Wahl stellt, hat es wegen ironischer Tweets erwischt.
  • Deutsche Wohnen & Co Enteignen
    Der Account der Initiative gegen Wohnungsknappheit ist wegen eines satirischen Tweets über die Berliner SPD gesperrt worden.

Weitere Betroffene, ohne dass ich die genaue Ursache im Einzelnen nachverfolgt habe (Liste wird laufend ergänzt):

Folgen und Ausblick

Der Imageschaden dieser Aktionen könnte für Twitter beträchtlich sein. Auch sind sich viele Juristen darüber einig, dass die Plattform die Rechte ihrer Nutzer verletzt. Die renommierte Kanzlei Löffel Abrar veröffentlichte eine Anleitung für den prozessualen Ablauf bei juristischen Schritten gegen Account-Sperren bei Twitter.

Häufig diskutiert wird auch der Vorwurf, das Overblocking von Twitter könnte direkte Folge des umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) sein, das im Oktober 2017 in Kraft getreten ist. RA Säfken schreibt dazu:

Anders als manch feixende Rechtsextreme behaupten, hat diese Sperre allerdings nichts mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) zu tun, das dafür sorgen soll, volksverhetzende und sonst strafbare Inhalte in sozialen Netzwerken wirksam zu unterbinden. Die Entscheidungen Twitters, auch völlig rechtskonforme Informationen zu entfernen, kann es jedenfalls nicht auf das NetzDG stützen. Denn rechtlich nicht zu beanstandende Äußerungen werden vom Anwendungsbereich des NetzDG überhaupt nicht erfasst, was man leicht am Wortlaut des § 3 des kurzen Gesetzes erkennen kann.

Säfken mag damit recht haben, dass die Sperrungen keine direkte Folge des NetzDG sind. Indirekt ist das Overblocking aber das Resultat der restriktiven Netzpolitik, die wir in Deutschland und Europa in den letzten Jahren verzeichnen durften. Wer als Plattformbetreiber mit horrenden Strafzahlungen für die rechtlichen Verfehlungen seiner Nutzer belegt wird, der neigt dazu, seine Filter-Algorithmen im Zweifel zu scharf als zu schwach zu justieren. So ist auch die Meldefunktion bei Twitter auf Druck der EU-Kommission implementiert worden. Nicht auszudenken, was demnächst die Algorithmen der Uploadfilter im Zuge der EU-Urheberrechtsreform fälschlicherweise blocken, wenn sie bereits bei der Erkennung von einfachem Text derart versagen, wie in diesem Fall.

Update (15.05.19): Die Ergebnisse der Ausschusssitzung des Bundestages waren so verwirrend wie überraschend. Eine Vertreterin von Twitter gab darin an, dass die Sperrung nicht von Algorithmen, sondern von Menschen getroffen würden. Sie räumte dabei Fehler ein, für die sie sich entschuldigte. Die Mitarbeiter würden in Zukunft besser geschult werden. Zu diesem Zurückrudern will aber die Ankündigung von Twitter nicht passen, auch weiterhin satirische Inhalte und die entsprechenden Accounts sperren zu wollen, wenn sie Falschinformationen zur Wahl enthielten. Diese Erläuterungen erscheinen mir zum Teil zu widersprüchlich, als dass man nicht den Eindruck einer Hinhaltetaktik bekommen könnte.

Erste Gerichtsentscheidungen

Update (06.07.19): Einige der Betroffenen haben sich juristisch gegen die Sperrungen zur Wehr gesetzt. Mittlerweile zeichnet sich ein deutliches Bild ab. Zahlreiche Gerichte haben die Sperrungen und Löschungen durch Twitter als Eingriff in die Meinungsfreiheit eingestuft.

Den Anfang machte eine einstweilige Verfügung des LG Berlin. Betroffener der Sperrung war hier allerdings der politische Gegenspieler der obigen Wahlscherze, nämlich der Berliner Landesverband der AfD. Weiter ging es mit den Entscheidungen des LG Nürnberg-Fürth und des LG Dresden. Letztere betraf den Fall der Sperrung des bereits oben aufgeführten Politikers Dietrich Herrmann. Explizit stellte das Gericht fest, dass die beanstandete Äußerung für den potenziellen Wähler eindeutig als Satire erkennbar war. Zuletzt erwirkte der Autor Tom Hillenbrand am LG München eine einstweilige Verfügung gegen Twitter.

5 Kommentare zu “Wie Twitter Wahlmanipulation fördert

  1. Mein Twitter-Konto http://www.twitter.com/d_herrmann ist übrigens auch nach 12 Tagen noch gesperrt.
    Für jemanden mit politischen Ambitionen, der vor der – eindeutig unberechtigten – Sperre recht intensiv politisch auf Twitter kommuniziert hat, eine ziemliche Einschränkung.

    1. Die Frage ist, welche politischen Konsequenzen man aus diesem Skandal – und als solchen möchte ich es bezeichnen – ziehen kann? Und welche Parteien sind bereit, diese Konsequenzen zu ziehen? Was wir hier erleben, ist Ausdruck des Regulierungswahnsinns, der das Internet seit einigen Jahren überzieht.

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