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Kowalczuk und Ramelow: Die neue Mauer – ein Gespräch über den Osten

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Berliner Mauer

Zwei deutsche Biografien

Ilko-Sascha Kowalczuk und Bodo Ramelow: In unserer gesellschaftlich aufgeheizten Gemengelage sind diese Namen bereits Grund genug, Feindbildern zu frönen. Der eine ist Historiker (und somit zugleich Wissenschaftler), der andere Politiker, noch dazu Linker. Doch die beiden haben in ihrem gemeinsamen Buch etwas zu sagen, was von Relevanz ist. Dabei irritiert und besticht zunächst das ungewöhnliche Format. Wir haben hier kein Sachbuch vor uns; vielmehr wurden Gespräche zwischen den beiden Protagonisten verschriftlicht, die sie zur Entwicklung Ostdeutschlands seit der Wende geführt haben. Ausgangspunkt sind die Biografien von Kowalczuk und Ramelow, die in ihren Voraussetzungen kaum unterschiedlicher sein könnten, gleichzeitig aber doch viele gemeinsame Schnittpunkte aufweisen. Dabei erfährt man, dass Ramelow, der als Ministerpräsident von Thüringen viele Jahre als das Aushängeschild einer realpolitischen Linken fungierte, eigentlich aus Westdeutschland stammte und erst nach der Wende in die neuen Bundesländer umsiedelte.

Von Treuhand und Unrechtsstaat

Der Einstieg in die Thematik wirkt in der Publikation fast schon misslungen, zumindest wenn man den Leser fesseln möchte. Kowalczuk und Ramelow tauchen in die Tiefen des Aufbaus und der Transformation der Gewerkschaften nach der Wende in Ostdeutschland ein. Der hierbei unkundige Leser hat dabei vielleicht das Problem, der differenziert beschriebenen Materie zu folgen. Dann aber lenken die beiden Diskutanten den Blick auf Fehler und Versäumnisse des Vereinigungsprozesses. Dabei darf die Treuhand nicht fehlen, die bis heute von vielen für den Niedergang der deutschen Wirtschaft verantwortlich gemacht wird. Aber auch darüber, dass die Übernahme des westdeutschen Rechts-, Wirtschafts- und Sozialsystems quasi über Nacht zu erheblichen Verwerfungen führte, ist man sich einig.

Bei der Frage nach einer homogenen ostdeutschen Gesellschaft und den Unterschieden zwischen Ost und West werden aber erste Differenzen in der Wahrnehmung deutlich. Hier kommt gelegentlich die unterschiedliche Biografie der beiden Autoren vor 1989 zum Tragen. Die kleinen Schlagabtausche versüßen das Lesen. Beide betonen allerdings die fehlende bzw. unzureichende Aufarbeitung deutscher Geschichte in Ostdeutschland. In der DDR gab es keinen 1968-Moment, der das obrigkeitsstaatliche Denken aufgebrochen hätte. Die DDR wurde zudem beim Umgang mit rechtstradikalen Tendenzen – die es offiziell nicht gab – häufig verklärt. Der Freiheits- und Realitätsschock folgte erst ab 1990. Was daraus hervorging, war häufig kein innerer Veränderungs-, sondern ein Anpassungsprozess. Biografische Brüche gepaart mit schweren Enttäuschungen waren in den Jahren nach der Wende die Regel, während man im Westen so weitermachte wie bisher und der Transformationsleistung des Ostens wenig Beachtung schenkte. Natürlich durfte auch die berühmte Frage nach dem DDR-Unrechtsstaat nicht ausgespart werden, zumal Kowalczuk als scharfer Kritiker der Linkspartei bekannt ist. So viel vorweg: Ramelow nimmt ihr gekonnt die Brisanz.

Gesellschaftspolitische Fragen

Weiter arbeiten sich die Autoren am Bild Russlands bzw. der Sowjetunion in der DDR und dem damit verbundenen Antiamerikanismus ab. Besonders anschaulich sind die kurzen Einblicke in den Alltag in einer Diktatur und die nachhaltige Wirkmacht von Indoktrination. Und natürlich dürfen, wenn man über den Osten spricht, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit nicht ausgeklammert werden. Wichtig erscheint mir die Erkenntnis, dass sich der Rassismus in Ost und West insofern unterscheidet, als er in der DDR strukturell bedingt war, weil es keine gesellschaftspolitische Auseinandersetzung dazu gab. Das wurde nach der Wende schlagartig zum Problem. Wir erinnern uns alle an die Bilder aus Rostock-Lichtenhagen. Nicht wirklich Neues präsentierten Kowalczuk und Ramelow zum Aufstieg der AfD. Die Feststellung, dass dort, wo der geringste Ausländeranteil vorherrscht, die größten AfD-Erfolge zu verzeichnen sind, ist so richtig wie bekannt. Es ist die berühmte Angst vor dem Unbekannten, die sich unter die grundsätzlichen und menschlichen Vorbehalte gegen Veränderungen einreiht.

In der Folge schweifen die Autoren ab, diskutieren über Sahra Wagenknecht, den BSW, Frieden und die NATO, ohne den Bogen zum eigentlichen Thema zurückzuschlagen, um letztlich doch die entscheidenden Fragen und Ansätze aufzuwerfen, die den deutschen Osten beschäftigen und prägen. Da ist zunächst das Versäumnis, mit der Wiedervereinigung keine neue gemeinsame Verfassung mit der Chance auf mehr direkte Demokratie durch Volksbegehren auf den Weg gebracht zu haben. Dabei sieht Artikel 146 GG die Möglichkeit eines verfassungsrechtlichen Neubeginns ausdrücklich vor. Man entschied sich dagegen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik, wodurch die neuen Bundesländer vielleicht stets als Landstrich zweiter Klasse in den Köpfen haften blieben.

Und letztlich kulminieren all diese Fehlentwicklungen im Bereich der sozialen Ungerechtigkeit. Das ist nicht neu, darf aber im Rahmen einer ostdeutschen Problembetrachtung, die sich zunehmend auch für den Westen konstatieren lässt, nicht fehlen. Bürgergeld, Vermögensteuer, Renten, Gesundheitssystem sind hochaktuelle Themen mit Sprengstoff für soziale Verwerfungen. Dabei fällt auch eine wichtige und zentrale Feststellung: Den Charakter einer Gesellschaft beurteilt man am besten daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Und Kowalczuk schiebt nach, dass es ein Strukturfehler unseres politischen Alltags sei, dass diese Schwachen keine Lobby besitzen.

Tradition des Obrigkeitsstaates

Und schließlich schlagen die Autoren wieder einen Bogen zum Anfang des Buches. Es wird die These aufgeworfen, dass sich radikale Entwicklungen in Ostdeutschland besonders schnell und deutlich abzeichnen, weil die Tradition des Obrigkeitsstaates in der DDR nie gebrochen wurde. Kowalczuk und Ramelow debattieren über die Verantwortung der Medien beim Erstarken radikaler Parteien, um sich schließlich den Parteien selbst, zwangsweise auch der AfD, zuzuwenden. Schuldenbremse, Strukturprobleme und der europäische Gedanke einer gelebten Demokratie beenden die Gespräche auffällig abrupt.

Fazit

Wenn man über die Geschichte Ostdeutschlands seit 1989 debattiert, setzt man sich stets einem Minenfeld aus Klischees und Verallgemeinerungen aus. Dennoch müssen Probleme und Diskrepanzen im Verhältnis von West- und Ostdeutschland benannt werden, um das Phänomen zweier unterschiedlich tickender Landesteile im Ansatz verstehen zu können. Kowalczuk und Ramelow gelingt dieser Spagat weitestgehend, auch aufgrund ihres intellektuellen Hintergrundes und der Materie, die Teil ihres Lebens ist.

Woran das Buch eher krankt, sind die fehlende Struktur und der streiflichtartige Charakter der Themen. Dies ist aber dem ungewöhnlichen Format anzurechnen. Immer wieder schweifen die Diskutanten ab, greifen Themenfelder auch mehrfach auf, sodass man sich als Leser gelegentlich fragt, an welcher Stelle denn der rote Faden, der Bezug zum Kernthema Ostdeutschland verloren gegangen ist. Der Austausch zweier Insider ostdeutscher Zeitgeschichte ist fakten- und kenntnisreich, kann den Leser aber phasenweise in seiner Detailfülle überfordern. Wer Antworten auf die Frage nach den Ursachen der Entwicklung in Ostdeutschland seit der Wende sucht, wird vielleicht sogar in Teilen enttäuscht werden. Dort, wo sie gegeben werden, wirken sie nur selten als neue Erkenntnis. Das mag aber auch an der medialen Präsenz der unübersehbaren Mauer liegen, die Ost und West zunehmend zu teilen scheint.

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